2022, die erste: Erneuerung

Sollte ich das vergangene Jahr mit wenigen Worten zusammenfassen, würde ich die Begriffe Erneuerung, Demut und Sinnsuche wählen.

Erneuert habe ich beispielsweise meine Frisur und endlich auch eine wunderbare Friseurin gefunden, mit der ich mich angeregt unterhalten und auch schweigen kann, die mich mit einer einfühlsamen Kopfmassage verwöhnt, wenn sie ihr Werk in liebevoller Feinarbeit perfektioniert hat, schlichtweg deren Anwesenheit mir äußerst angenehm ist und auf deren Termine ich mich freue. Soulfood in grauen Zeiten.

Von der Wiederbelebung alter Sturm- und Drang Zeiten in diesem Sommer habe ich ja bereits ausführlich berichtet, auch das wirklich neu in meinem mittelalterlichen Leben. Erneuert habe ich aber vor allem meine Schulter, die seit einigen Jahren der Meinung war, mich durch deutliche Bewegungseinschränkung und Schmerzen unermüdlich an ihre Existenz erinnern zu müssen. Ich habe sie aber nicht einfach austauschen lassen, nein, die Wundermittel hießen Osteopathie, Physiotherapie und schließlich Rehasport. Ich liebe den Begriff Rehasport und erwähne ihn bei jeder Gelegenheit, assoziiert man ihn doch meist mit einer Herzsportgruppe, deren Teilnehmer*innen alle jenseits der 80 sind. Die irritierten Blicke meiner Gesprächspartner bereiten mir Freude. Mein Rehasport ist anders.

Ich bin bei OE, was Obere Extremitäten bezeichnet, wir sind ein bunt gemischtes Grüppchen und werden wechselweise mit Hilfe von großen und kleinen Bällen, Bändern, Faszienrollen, Hanteln oder Geräten von wechselnden Trainer*innen und ihren eigenen Motivationsmethoden eine Stunde wöchentlich traktiert. Wie effektiv das Ganze ist, merke ich spätestens dann, wenn ich auf dem Rückweg noch einen Abstecher in den Supermarkt mache. Die Einkaufstaschen fühlen sich jedes Mal dreimal so schwer an wie sonst, die Treppe nach Hause weitaus steiler und länger. Zu Hause und allein würde ich diese Muskelgruppen niemals so konsequent und ausdauernd bewegen. Und was soll ich sagen, es flutscht alles wieder ganz ordentlich.

Natürlich gibt es auch bei uns ein paar richtig alte Menschen. Seit einiger Zeit trainiert eine sehr schlanke, hochgewachsene Dame mit uns, die ihrer runzeligen Haut nach und und der Schilderung ihres Militärstiefeltraumas, auf jeden Fall Mitte achtzig sein sollte. Ihren Einstieg gab sie ausgerechnet in der Stunde, in der wir erstmals jede(r) ein Balanceboard verwendeten, das ist so ein wackeliges Rondell, von dem man unter der unbewussten Zuhilfenahme der gesamten Rumpfmuskulatur versucht, nicht herunterzustürzen, während man wechselseitig die Beine vom Boden in die Luft hebt und wieder absenkt. In dieser Stunde stand mir von Anbeginn der Schweiß auf der Stirn, rechnete ich doch sekündlich mit einem Sturz der alten Dame, bei dem sie sich mindestens den Oberschenkel brechen würde, was nicht nur das Aus ihrer Rehasport Karriere bedeuten, sondern weitaus einschneidenderer Folgen für ihr Leben haben würde. Dieses Jahr war nämlich auch eines der Stürze älterer Damen in meinem persönlichen Umfeld und ich sehe überall nur noch stürzende Greise, vor allem jetzt bei Schnee und Eis, wenn die Rollatoren verkeilen und der Grund spiegelglatt ist. Zuvor der Herbst mit seinen matschigen Blättern, der Sommer mit seiner Dehydrierung und der Hitzeschlaggefahr, tja und der Frühling, wer weiß, was der für Tücken zu verbergen sucht. Gott sei Dank überstand die Dame die Stunde bravourös, seitdem hatten wir kein Balanceboard mehr.

Jeder Trainer und jede Trainerin hat so seine spezielle Persönlichkeit und Methodik, manche möchten sich gerne über das Wochenende oder Plätzchenrezepte unterhalten, andere geben den Clubanimateur und treiben mit Worten an und wieder andere versuchen es mit Musik der 70er oder 80 er. Das Erinnern an die eigene Jugend soll wohl verborgene Kräfte freisetzen. Als ich mich dann zu „Tainted love“ von Soft Cell auf meiner Matte liegend abquälte, musste ich bedauernd an mein jugendliches Ich denken, das sich blass geschminkt, mit schwarz gefärbtem und teilrasiertem Haar, tiefen Gefühlen und in ganz anderen Sphären zu diesem Song über die Tanzfläche bewegt hatte. Es hätte sich voller Abscheu abgewandt, hätte es sehen können, wie profan ich mich hier abmühte. Muskelkater statt Seelenpein. Naja, so ein Kurs ist nicht ohne Humor zu bewältigen. Eine meiner Trainerinnen arbeitet am Wochenende übrigens zusätzlich in einem Club, aber die hören da ja auch kein Soft Cell mehr. Aber irgendwie schließt sich trotzdem der Kreis. Wie weihnachtlich.

(Mehr zu Demut und Sinnsuche demnächst auf diesem Kanal.)