Buchtipp: „Patria“ von Fernando Aramburu

Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, fehlt mir gerade etwas Zeit und Muße, um zu schreiben. Ich möchte Euch aber zumindest in wenigen Worten zwei Bücher empfehlen, die ich in den letzten Wochen gelesen habe. Das erste ist:

„Patria“ von Fernando Aramburu

Seitenzahlmäßig ein ziemlicher Brocken, aber gut in Etappen zu lesen, schon deshalb, weil Zeiten und Erzählperspektiven wechseln, ohne aber, dass es zu kompliziert würde, der Handlung zu folgen.

Der Roman erzählt von zwei befreundeten Familien im spanischen Teil des Baskenlandes. Während Txato, Unternehmer und Familienoberhaupt einer der Familien, eines Tages von Terroristen der ETA* erschossen wird, weil er sich weigert, Revolutionsgeld zu zahlen, schließt sich Joxe Mari, der ältere Sohn der anderen Familie der ETA an. Obwohl von Kindheit an eng verbunden, kommt es zum Bruch.

Fernando Aramburu zeigt uns eine Welt, in der das Baskische über allem anderen steht, der permanente Druck der Dorfgemeinschaft zur Radikalisierung der Menschen führt und wie schwer es ist, sich dem zu entziehen. Er gibt Tätern und Opfern eine Stimme. Durch sie erfahren wir, was es heißt, als Familienmitglied eines Opfers der zahlreichen Attentate durchs Leben gehen zu müssen, aber auch als Mutter, Vater, Bruder oder Schwester eines Attentäters. Wir erfahren von den unterschiedlichen Strategien, mit dem Schicksal fertig zu werden. Eine Annäherung scheint fast unmöglich und dennoch gibt es auch die, die aufbegehren…

Ein wirklich spannender, kluger und interessanter Roman, auch wegen des „Euskera“, der baskischen Schrift und Sprache mit den vielen x, die Aramburu immer wieder einfließen lässt und die uns vor einigen Jahren erstmals im Urlaub im französischen Teil des Baskenlandes in den Pyrenäen begegnet ist.

*Euskadi ta Askatasuna (baskisch für „Baskenland zur Freiheit“)

ISBN: ISBN: 978-3-499-27361-2  Rowohlt Verlag

Das andere kommt die Tage…versprochen!

Buchtipp: „Was nie geschehen ist“

Was nie geschehen istDie meisten von uns haben vermutlich Phasen durchlebt, in denen das Verhältnis zu den Eltern oder einem Elternteil belastet war und eine echte Verständigung kaum möglich war, weil die Wahrnehmung zu weit auseinander gegangen ist. Manchmal führt das sogar zum Kontaktabbruch. Nichterfüllte Erwartungen, Sehnsüchte, Sprachlosigkeit, Unverständnis. Aber kann das überhaupt anders sein? Gibt es die eine Wahrheit? Kann die Wahrnehmung von Mutter und Tochter überhaupt übereinstimmen?

Mit diesem Thema befasst sich Nadja Spiegelman in ihrem Roman „Was nie geschehen ist“. Die Autorin beschließt, ein Buch über ihre Mutter Francoise zu schreiben. Sie möchte die Bruchstücke der Erzählungen und Andeutungen zu einem Bild zusammenfügen, um besser verstehen zu können, warum ihre Mutter zu der geworden ist, die sie ist. Über Monate hinweg interviewt sie Francoise und erfährt so von deren schwierigen Kindheit und Jugend, die tiefe Narben hinterlassen hat, von ihrer Sehnsucht nach der so sehr bewunderten, unnahbaren Mutter, die ihre Liebe in diesem Maße nie zu erwidern schien, sondern die Tochter, viel mehr noch, immer wieder von sich stößt und die ältere Schwester vorzieht. Nadja Spiegelman erzählt aber auch von ihrem eigenen Heranwachsen mit dieser Mutter, die ihr manchmal wie eine zauberhafte Fee erscheint, um kurz darauf wieder aufzubrausen und zu tosen.

Irgendwann wird Nadja klar, dass sie auch ihre Großmutter Josèe befragen muss, um sich ein Bild dieser Familie machen zu können und die vielen offenen Fragen nicht im Raum stehen zu lassen. Behutsam nähern sich die beiden an und so gelingt, was zwischen Mutter und Tochter nicht möglich ist: Die Enkelin lernt die wunderbare Person kennen, die Josèe jenseits ihres Versagens als Mutter ist. Denn auch Josèe hat als Kind viele Ungerechtigkeiten und Verletzungen erlebt und erzählt eine ganz andere Geschichte über die Kindheit und Jugend ihrer Tochter.

Für mich hat das auf einmal Sinn gemacht, überlegt man mal, wie anders Kinder, die ja total im Augenblick leben und zudem von ihren Eltern emotional vollständig abhängig sind, Situationen wahrnehmen als ihre oft eher vernunftgesteuerten Eltern. Wie bedrohlich einem Kind manches erscheint, was die Eltern als Lappalie abtun. Verdrängungsmechanismen tun dann ihr übriges, um Erinnerungen zu verfälschen. Nüchtern betrachtet, können sich die Versionen über ein Leben gar nicht gleichen und vielleicht kann man auf Grund dieser Tatsache auch einen gewissen Frieden finden mit Ungereimtheiten in der eigenen Geschichte.

Wer „Was nie geschehen ist“ lesen möchte, sollte der Frankophilie nicht abgeneigt sein, denn obwohl Francoise Spiegelman als junge Frau nach New York geflohen ist und Nadja dort aufwächst, spielt sich der wichtigste Teil der Biographien in Paris ab, wo die Großmutter inzwischen auf einem Hausboot lebt, in Deauville, Ussel und anderen Teilen Frankreichs. Paul, ein Schönheitschirurg, und Josèe waren ein glamouröses Paar, das als Aufsteiger in die bessere Gesellschaft einen mondänen Lebensstil pflegte, als sie ihre drei Kinder bekamen. Und so spielen sich die Tragödien der Familie manchmal vor zauberhafter Kulisse ab, wie so oft im Leben.

Viel Spaß beim Lesen!

Naja Spiegelman „Was nie geschehen ist“

Verlag: Aufbau   ISBN: 978-3-351-03705-5

Ein gutes Sachbuch zum Thema Kontaktabbruch findet ihr übrigens hier: Kontaktabbruch in Familien