Buchtipp: „Train Kids“

von Dirk Reinhardt

In den Nachrichten können wir gerade Bilder von einem gewaltigen Flüchtlingsstrom aus Honduras sehen, von Menschen, die in die USA wollen, getrieben von Armut, befeuert von der Hoffnung, Joe Biden würde mehr Verständnis für ihr Schicksal haben als sein Vorgänger.

Wie passend das Buch, das wir in den Weihnachtsferien gelesen haben und  in dem es genau um dieses Thema geht. Der etwa elfjährige Angel, Hauptperson Miguel (14), Jaz, die eigentlich ein Mädchen ist, Emilio und Fernando (16), die aus verschiedenen Ländern Südamerikas (unter anderem Honduras) stammen, lernen sich zufällig an der Südgrenze zu Mexico kennen und beschließen, die 2500 Kilometer lange, gefährliche Reise durch das Land gemeinsam durchzustehen. Fernando, der Älteste, hat es schon einige Male versucht und wertvolle Erfahrungen sammeln können, wo man auf der Strecke Verbündete bezahlen muss, an welchen Stellen man von den Güterzügen abspringen muss, um Polizeikontrollen zu entgehen und wo es hilft, sich von der Kälte mit dem Schnüffeln von Klebstoff abzulenken. Ständig prahlt er mit unglaublichen, oft brutalen Geschichten, bei denen die Jüngeren nie so genau wissen, ob sie wirklich stimmen können.

Bald stellt sich heraus, dass sie ohne Fernando verloren wären, denn es dauert nicht lange, bis die ersten Gefahren auf sie lauern – korrupte Polizeibeamte, Banditen, Drogen- und Menschenhändler und nicht zuletzt unzählige Unfälle beim Auf- und Abspringen auf die Züge oder durch herabhängende Äste, Hitze und Kälte und vieles mehr. Und dennoch nehmen sie die gefährliche Reise auf sich. Sie fliehen vor der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat, vor der Armut oder weil sie ihren Müttern nachreisen, die sie schon vor vielen Jahren nachholen wollten und es nie geschafft haben, als Illegale in den USA genug Geld zu verdienen. Im Lauf der Reise erfahren wir immer mehr von den Jugendlichen, sie kommen sich näher und knüpfen ein enges Band durch alles, was sie zusammen erleben. Dass die Wirklichkeit kein bisschen besser ist als die fantastischen Geschichten Fernandos, ist eine bittere Erkenntnis auf ihrem Weg.

Ihr wisst wahrscheinlich inzwischen, dass ich nicht gerne zu viel verrate von den Büchern, die ich vorstelle, ich möchte nur Lust zum Lesen machen. „Train Kids“ ist ein sehr spannendes, aber eben auch realistisches Buch, weshalb es an einigen Stellen auch wirklich grausam ist. Deshalb würde ich die Lektüre ab 13 Jahren empfehlen, auch wenn ich sie durchaus für zumutbar halte. Wir lesen schließlich nur darüber und sind nicht teil dieser gefährlichen Reise. Ich habe aber beim Vorlesen zugegebenermaßen ein paar Stellen ausgespart… “Train Kids“ ist eine tolle Geschichte über Freundschaft und Zusammenhalt, über Hoffnung und Träume und darüber, wie traumatische Erfahrungen Menschen verändern. Und sie sensibilisiert für Menschen, die unter so viel schwierigeren Bedingungen aufwachsen müssen als wir.

Dirk Reinhardt schreibt im Nachwort von seinen Recherchen und den Menschen, die er kennengelernt hat. 300000 Menschen passieren pro Jahr die Südgrenze Mexicos, um in die USA zu gelangen, die wenigsten schaffen es und versuchen es doch immer wieder.

„Train Kids“ von Dirk Reinhardt, Carlsen, ISBN 978-3-551-31614-1

Buchtipp: „Herkunft“ von Saša Stanišić

Ich bin gespannt, wie sich die Literatur durch Corona verändern wird. Ob es stets einen Bruch in „vor“ und „nach“ geben wird, insbesondere bei Biographien. Die neue Stunde Null sozusagen. In diesem Bewusstsein genieße ich die coronafreie Lesezeit mit den Neuerscheinungen des vergangenen Jahres.

Herkunft_von Sasa Stanisic„Herkunft“ von Saša Stanišić ist eines dieser Bücher, ausgezeichnet mit dem deutschen Buchpreis und das wirklich mehr als verdient. Stanišić ist ein Sprachkünstler, der zauberhaft mit einer Sprache jongliert, die ihm erst im Alter von zwölf Jahren zu eigen wurde, als er mit seinen Eltern vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland floh. Und der es irgendwann wagte, in dieser Sprache zu schreiben, weil ihn sein Deutschlehrer dazu ermutigte. „Herkunft“ ist eine fiktionale Biographie, in der er sich auf die Reise in eine Zeit begibt, die seiner geliebten Großmutter, die zunehmend an Demenz erkrankt, allmählich entgleitet. Spielerisch springt der Autor durch die Zeiten, erzählt von seiner Jugend in Heidelberg, als er es kaum wagte, jemanden mit nach Hause zu nehmen, weil die Familie in so bescheidenen Verhältnissen lebte, er erzählt von einem Jugoslawien, in dem alle ziemlich friedlich zusammenlebten, bis das der aufpeitschende Nationalismus unmöglich machte, er erzählt von seinem Vater, der ihn als Kind vor dem Angriff einer Poskok, einer Hornotter, rettete, von der Heimat seiner Großeltern, der Landschaft und den Menschen. Manches ist wahr, manches ist erfunden und ein wenig phantastisch im besten Sinne. So erwartet den Leser ein ganz besonderes Ende der Geschichte oder auch zwei?

„Herkunft“ ist ein sehr besonderes Buch, voller Humor, Liebe und Freude am Leben und der Sprache. Wie es Thomas Hummitzsch vom Rolling Stone formulierte: „Sasa Stanisic ist ein Poet und Revolutionär, der seine eigentliche Heimat in der Sprache gefunden hat.“ Treffender lässt sich das nicht sagen.

Wer mehr darüber erfahren möchte: Buchbesprechung SWR2

„Herkunft“ von Saša Stanišić

ISBN: 978-3-630-87473-9   Verlag: Luchterhand