Buchtipp: „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel

„Die Mitte der Welt“ entdeckte ich in der Bibliothek der sechzehnjährigen Tochter von Freunden, als mir der Lesestoff gerade ausgegangen war. Und tatsächlich bezieht der Autor im Nachwort Stellung zu der Frage, ob es sich hierbei um ein Jugendbuch handele oder nicht. Man kann darüber also geteilter Meinung sein. Ich finde, es entspräche allerdings nicht dem Geist des Buches, es in so engstirnige Kategorien pressen zu wollen. Klar, Hauptfigur und Ich-Erzähler des Romans ist der siebzehnjährige Phil. Aber wir waren ja schließlich auch mal jung und es macht Spaß, in diese Phase des Lebens einzutauchen, auch wenn wir sie sicherlich mit weitaus mehr Distanz betrachten können, als es vermutlich ein Teenager tut, der denselben Roman liest. Lustigerweise habe ich mit einer anderen Leserin auch über den Ort der Handlung diskutiert. Während ich mir sicher war, dass der Roman in England spielt, schwor sie darauf, dass es Deutschland sei. Man merkt also bereits an dieser Stelle eine gewisse Vielschichtigkeit und eine ordentliche Portion Raffinesse des hochgelobten Autors. Der genaue Spielort bleibt tatsächlich im Unklaren, aber jede*r hat sein eigenes, gestochen scharfes Bild von diesem riesigen, verwunschenen Anwesen namens „Visible“, das, umgeben von einem großen Park, auf einer Anhöhe außerhalb des Ortes steht und in dem Phil mit seiner eigenwilligen Zwillingsschwester Dianne, der unangepassten Mutter Glass und Tereza, der Freundin der Familie und seiner Art Zweitmutter, lebt.

Die siebzehnjährige Glass flüchtet hochschwanger mit den Zwillingen von Amerika zu ihrer älteren Schwester, die allerdings kurz vor ihrer Ankunft stirbt und ihr das Anwesen vererbt. Da sie als alleinerziehende junge Mutter sowieso nicht den Konventionen der „Normalos“ entspricht, gibt sie sich erst gar keine Mühe, sich anzupassen und irgendeinem Bild zu entsprechen. Sie wechselt ihre Liebhaber wie andere Leute die Unterwäsche und meidet keinerlei Konfrontation mit den Einwohner*innen des kleinen Ortes. Phil wünscht sich manchmal, dass einer ihrer Verehrer länger bliebe und sehnt sich nach einer Vaterfigur und Orientierung. Die Geschwister wachsen in dem Bewusstsein auf, nie dazuzugehören, leben dafür aber auch ein sehr freies Leben. So macht es für seine gesellschaftliche Stellung in der piefigen Kleinstadt kaum einen Unterschied, als Phil entdeckt, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt und sich schließlich das erste Mal unsterblich verliebt. Diese ungewöhnliche Familienkonstellation und das zauberhafte, verfallende Haus bieten den Schauplatz für mystische Momente und Begegnungen auf der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt.

Für Menschen, die gerne in anderer Leben abtauchen, gerne Tagträumen und vielleicht ein bisschen anders sind.

Verlag: Carlsen ISBN 978-3-551-35315-3

Buchtipp: „Train Kids“

von Dirk Reinhardt

In den Nachrichten können wir gerade Bilder von einem gewaltigen Flüchtlingsstrom aus Honduras sehen, von Menschen, die in die USA wollen, getrieben von Armut, befeuert von der Hoffnung, Joe Biden würde mehr Verständnis für ihr Schicksal haben als sein Vorgänger.

Wie passend das Buch, das wir in den Weihnachtsferien gelesen haben und  in dem es genau um dieses Thema geht. Der etwa elfjährige Angel, Hauptperson Miguel (14), Jaz, die eigentlich ein Mädchen ist, Emilio und Fernando (16), die aus verschiedenen Ländern Südamerikas (unter anderem Honduras) stammen, lernen sich zufällig an der Südgrenze zu Mexico kennen und beschließen, die 2500 Kilometer lange, gefährliche Reise durch das Land gemeinsam durchzustehen. Fernando, der Älteste, hat es schon einige Male versucht und wertvolle Erfahrungen sammeln können, wo man auf der Strecke Verbündete bezahlen muss, an welchen Stellen man von den Güterzügen abspringen muss, um Polizeikontrollen zu entgehen und wo es hilft, sich von der Kälte mit dem Schnüffeln von Klebstoff abzulenken. Ständig prahlt er mit unglaublichen, oft brutalen Geschichten, bei denen die Jüngeren nie so genau wissen, ob sie wirklich stimmen können.

Bald stellt sich heraus, dass sie ohne Fernando verloren wären, denn es dauert nicht lange, bis die ersten Gefahren auf sie lauern – korrupte Polizeibeamte, Banditen, Drogen- und Menschenhändler und nicht zuletzt unzählige Unfälle beim Auf- und Abspringen auf die Züge oder durch herabhängende Äste, Hitze und Kälte und vieles mehr. Und dennoch nehmen sie die gefährliche Reise auf sich. Sie fliehen vor der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat, vor der Armut oder weil sie ihren Müttern nachreisen, die sie schon vor vielen Jahren nachholen wollten und es nie geschafft haben, als Illegale in den USA genug Geld zu verdienen. Im Lauf der Reise erfahren wir immer mehr von den Jugendlichen, sie kommen sich näher und knüpfen ein enges Band durch alles, was sie zusammen erleben. Dass die Wirklichkeit kein bisschen besser ist als die fantastischen Geschichten Fernandos, ist eine bittere Erkenntnis auf ihrem Weg.

Ihr wisst wahrscheinlich inzwischen, dass ich nicht gerne zu viel verrate von den Büchern, die ich vorstelle, ich möchte nur Lust zum Lesen machen. „Train Kids“ ist ein sehr spannendes, aber eben auch realistisches Buch, weshalb es an einigen Stellen auch wirklich grausam ist. Deshalb würde ich die Lektüre ab 13 Jahren empfehlen, auch wenn ich sie durchaus für zumutbar halte. Wir lesen schließlich nur darüber und sind nicht teil dieser gefährlichen Reise. Ich habe aber beim Vorlesen zugegebenermaßen ein paar Stellen ausgespart… “Train Kids“ ist eine tolle Geschichte über Freundschaft und Zusammenhalt, über Hoffnung und Träume und darüber, wie traumatische Erfahrungen Menschen verändern. Und sie sensibilisiert für Menschen, die unter so viel schwierigeren Bedingungen aufwachsen müssen als wir.

Dirk Reinhardt schreibt im Nachwort von seinen Recherchen und den Menschen, die er kennengelernt hat. 300000 Menschen passieren pro Jahr die Südgrenze Mexicos, um in die USA zu gelangen, die wenigsten schaffen es und versuchen es doch immer wieder.

„Train Kids“ von Dirk Reinhardt, Carlsen, ISBN 978-3-551-31614-1

Buchtipp: Dirk und ich

Anstatt darüber zu jammern, dass ich meine Freundinnen nicht sehen kann (hört mir bitte auf mit skype und Co), möchte ich euch einen vergnüglichen Buchtipp unterbreiten.

„Dirk und ich“ von Andreas Steinhöfel ( ja, der von Rico, Oskar und all sowas)

Dirk und ich

Als ich mir vor ein paar Jahren nochmals ein paar Folgen von „Luzie, der Schrecken der Straße“ angesehen habe, wurde mir erst so richtig klar, in welcher Freiheit wir ( so grob die Jahrgänge zwischen 1960-1980) aufgewachsen sind. Die kleine Luzie war eigentlich unentwegt allein zu Hause und hatte entsprechend viel Zeit, mit ihren Freunden Friedrich und Friedrich, zwei bunten Knetmassemännchen, Unfug anzustellen. Heute würde unter diesen Umständen innerhalb kürzester Zeit das Jugendamt vor der Tür stehen, deshalb gibt man die Kinder ja zur Betreuung in Kita oder Hort.

Hier eine kleine Impression:

https://www.youtube.com/watch?v=sEbg1JahzYY&list=PLoSvj7cEeg_ErJL0j3K60052PqHhwG1an&index=3

Genauso anarchistisch liest sich manchmal „Dirk und ich“, ein Band mit Kurzgeschichten des bekannten Kinder-und Jugendbuch Autoren Andreas Steinhöfel (Jahrgang` 62) über seine Kindheit, das bereits 1991 erstmals veröffentlicht wurde. Also ein Oldie, but goldie. Wenn er von seinem Kindergeburtstag erzählt, an dem sich die Kinder Spaghetti mit Tomatensoße in die Haare schmierten oder ihr Gesicht in den Spaghettitopf tauchten, während seine Mutter begeistert dabei zusah oder sich seine Eltern auf dem Campingplatz eine handfeste Klopperei mir den Nachbarn lieferten, hat sich nicht nur mein Sohn gefragt, ob das wirklich wahr sein kann. Ich nehme an, die Geschichten sind an ein oder anderer Stelle ein wenig überzogen. Der erwachsene Leser weiß trotzdem oft genau, wovon Herr Steinhöfel berichtet. Es sind die vielen, kleinen Details, die eine andere Ära heraufbeschwören. Die Zeit, in der sich Kinder noch selbst überlassen waren und diese Freiheit völlig normal war. Die Zeit, In der es bisweilen feuchtfröhlich wurde, wenn die Verwandtschaft oder Nachbarn zu Besuch kamen und Kinder ihre Streitigkeiten noch auf dem Schulhof selbst austrugen.

Ein herrliches, manchmal bizarres Lesevergnügen für Eltern und Kind(er). Und Humor ist gerade überlebenswichtig, finde ich. Haltet durch und bleibt gesund!

Andreas Steinhöfel „Dirk und ich“

Verlag Carlsen  ISBN 978-3-551-35127-2