Flüchtlinge zweiter Klasse

Ich freue mich wirklich sehr darüber, welche Unterstützung Geflüchtete aus der Ukraine erfahren. Die Menschen werden von engagierten Privatpersonen, Busunternehmen oder Hilfsorganisationen an der Grenze abgeholt und sogar von der Deutschen Bahn unentgeltlich mitgenommen und in oftmals private Unterkünfte gebracht, die von Mitbürger*innen zur Verfügung gestellt werden, die helfen wollen. Polen wächst in seiner Willkommenskultur über sich hinaus, während die Regierung noch vor wenigen Wochen alles dafür getan hat, Flüchtlingen den Zugang in die EU zu verwehren und nicht einmal Hilfsorganisationen hat passieren lassen. Dass auch jetzt nicht selten Unterschiede zwischen „echten Nachbarn“ und Zugezogenen, die anders aussehen, gemacht werden, verwundert nicht.

So positiv mich der Zusammenhalt in Europa gerade stimmt, so traurig macht mich die Behandlung zweiter Klasse von Menschen aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten der Welt, denen nicht minder Schlimmes widerfahren ist und deren Flucht oft Monate oder auch Jahre andauert. Bei denen wir uns damit abgefunden haben, dass sie jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern ausharren müssen, während wir jetzt alles dafür tun, den Menschen aus der Ukraine schnellstmöglich eine feste Bleibe und eine Perspektive zu bieten.

Vermutlich ist es politisch unkorrekt, die Ursache darin zu sehen, dass Menschen beispielsweise aus dem Nahen Osten meist eine andere Hautfarbe und eine andere Religion haben und keine Europäer*innen sind und allein deshalb unter Generalverdacht stehen, sich Asyl erschleichen zu wollen. Vielleicht ist das aber auch die bittere und einfache Wahrheit.

Möglicherweise entsteht aber auch erst jetzt bei den Deutschen und seinen Nachbarn, die den 2. Weltkrieg nicht mehr erleben mussten, ein Bewusstsein dafür, was Krieg und Flucht bedeuten und wie schnell jeder von uns selbst betroffen sein könnte. Und dass auch wir einmal auf Hilfe angewiesen sein könnten.

Es wäre wünschenswert, wenn von dieser Bewusstseinserweiterung bald auch Flüchtende aus anderen Ländern profitieren könnten. Viel mehr bleibt allerdings zu fürchten, dass die Hilfsbereitschaft und Solidarität nur so lange andauern wird, wie sie nicht zum eigenen Nachteil gereicht. Sobald es um die Verteilung von Jobs, Wohlstand und Wohnraum gehen wird, ist sich vermutlich wieder jede(r) selbst der oder die nächste. Hoffen wir, dass es uns gelingt, den Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft zu bewahren und ein neues Gemeinsam zu finden.

Buchtipp: Am Ende bleiben die Zedern

Heute finden nach fast zehn Jahren Parlamentswahlen im Libanon statt. Ein neues Wahlgesetz ermöglicht erstmals auch unabhängigen Kandidaten, die sich nicht über ihre Religionszugehörigkeit definieren, mehr Chancen. 66 von 1000 Kandidaten treten als unabhängig an. Das ist eine neue Bewegung gegen das Establishment. Im Libanon leben 18 anerkannte religiöse Gruppen, die Macht wurde bisher nach strengen Regeln zwischen verschiedenen Vertretern aufgeteilt. Dabei werden beispielsweise die Schiiten vom Iran unterstützt, die Sunniten von Saudi Arabien, es gibt Einflussnahmen von Syrien und Israel. Warum ich mich dafür interessiere? Weil ich gerade erst den Roman „Am Ende bleiben die Zedern“ von Pierre Jarawan gelesen habe. Eine berührende Familiengeschichte, in der man viel von diesem gespaltenen Land erfährt, von seiner Schönheit, seinen Konflikten und Kriegen. In der man einen Eindruck davon bekommt, wie schwierig es sein kann, Geschichte festzuschreiben, in einem Land in dem es so viele unterschiedliche Glaubensrichtungen, Parteien und Sichtweisen gibt. Es bleiben mehr Fragezeichen als Antworten zurück. Was ich aber verstanden habe, ist, dass eine Lösung der politischen Führung von der Religion ein ganz wichtiger Schritt in eine gute Richtung sein könnte.

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Pierre Jarawan   „Am Ende bleiben die Zedern“

Berlin Verlag         ISBN: 978-3-8270-1302-6