#boycottQatar2022

Es gibt wahrlich Wichtigeres auf der Welt als Fußball. Die Proteste im Iran beispielsweise oder den Ukrainekrieg. Und doch hängt ja immer alles mit allem zusammen, ein Umstand, der richtiges Handeln und politische Entscheidungen im Allgemeinen so ungemein schwierig macht. Und irgendwie passt die WM in Katar gerade nur zu gut zur Politik unserer Bundesregierung.

Ich stolperte vergangene Woche in den Nürnberger Nachrichten über einen Artikel, dass laut Amnesty International etwa 15000 Arbeiter bei dem Bau der Sportstätten und dazugehörigen Gebäude für die Fußballweltmeisterschaft in Katar ums Leben gekommen seien. 15000! Für ein Sportfest. Das ausnahmsweise im November stattfindet, weil die Hitze sonst gar nicht auszuhalten wäre, in heruntergekühlten Stadien, passend zur Energiekrise.

Aber die Katarer haben ja Geld und Gas genug, um FIFA wie Wirtschaftsminister gleichermaßen zu beeindrucken. Dass sich Habeck deshalb vor geraumer Zeit dazu veranlasst sah, vor dem katarischen Energieminister in die Knie zu gehen, weil er die irrwitzige Idee zu haben schien, Energiegeschäfte mit Katar seien moralisch irgendwie vertretbarer als Gaslieferungen aus Russland, einfach unglaublich. Wie war das mit Pest und Cholera? Frauenrechte? Menschenrechte? Ach was. Binnen weniger Wochen nach Amtsantritt scheint Habeck all seine Überzeugungen begraben zu haben, natürlich mit besten Absichten, schließlich muss er die deutsche Wirtschaft retten.

Ja, die Wirtschaft, und dazu gehört eben auch die FIFA, gibt den Ton an. Und die verdient natürlich gerne Geld, weshalb wir uns noch immer ans Wirtschaftswachstum klammern als wäre es das Allheilmittel, die Garantie für den Erhalt unseres Wohlstands. Aber wessen Wohlstand erhält es? Und wie soll das eigentlich funktionieren mit dem ständigen Wachstum? Was ist mit dem Earth Overshoot Day, jenem Tag, der daran erinnert, wann die Welt die Ressourcen, die ihr für ein Jahr zur Verfügung stehen, bereits verbraucht hat und der bereits im Juli erreicht war? Bei der Vergabe 2010 war es natürlich noch nicht so populär, grün zu denken. Sonst hätte man die WM vielleicht an einem Ort ausgetragen, an dem bereits Spielstätten weitestgehend vorhanden gewesen wären und die klimatischen Verhältnisse besser gewesen wären. Andererseits wusste man ja auch von den Problemen mit den Menschenrechten, von Diskriminierung, politischer Verfolgung und unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Wie naiv von mir. Ich jedenfalls bekomme das nicht zusammen mit dem steten Wachstum und dem Retten unseres Planeten. Scheint gerade alles nicht mehr so wichtig zu sein.

Ich wünschte mir jedenfalls sehr, dass ein Herr Habeck oder Herr Scholz aussprechen würde, dass die Energiekrise zwar Scheiße ist, wir aber sowieso nicht mehr so weiter machen können wie bisher, anstatt kniezufallen und auch noch Saudi-Arabien Waffenlieferungen zu genehmigen, damit sie uns, wenn wir nur nett genug sind, mit Energie versorgen. Das ist doch, gelinde gesagt, zum Kotzen. Egal, woher die Energie kommt, wir verbrauchen zu viel, weil wir zu viel produzieren und konsumieren. Ich weiß, dass man in einer globalisierten Welt nicht einfach so aussteigen kann. Aber es bedürfte doch wenigstens Visionen für eine langfristige Umgestaltung der Wirtschaft. Wir sind am Ende einer Sackgasse. Jetzt braucht es gute Ideen, wie es anders gehen kann, anstatt die eigenen Werte zu verraten und zu versuchen, den Status Quo um jeden Preis zu wahren. Da hatte ich an die Bundesregierung zugegebenermaßen schon eine andere Erwartungshaltung als an die FIFA.

Wenn es um die eigenen Interessen geht, scheint jedenfalls so ziemlich alles egal zu sein, ob beim Fußball oder in der Politik. Wir können nur zeigen, dass wir das nicht wollen. Im Fall der FIFA, indem wir den Verband dort treffen, wo es ihm wehtut. Beim Geld verdienen. Auch wenn das meiste diesmal vermutlich schon im Vorfeld durch Lizenzen und Übertragungsrechte verdient wurde, müssen wir diese WM boykottieren, damit es nicht noch einmal zu solch einer Vergabe kommt. Wir haben dann eine Stimme, wenn wir viele sind. Bis jetzt ist die Anzahl der Protestaufrufe noch sehr überschaubar, aber es beteiligen sich viele Fußballfanclubs und deren Mitglieder schauen bekanntlich besonders gern Fußball. Ich werde jedenfalls verzichten, auch wenn ich sonst immer mit Leidenschaft dabei bin. Passt doch irgendwie zu diesem Winter, in dem wir uns gerne den Arsch abfrieren, um Putins Krieg nicht zu finanzieren.

Ach, und Herr Habeck, wären Sie mal lieber Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft geworden. Sie haben echt einen Scheißjob gerade.

Es gibt viele gute Gründe, diese WM zu boykottieren. Macht mit! Nachlesen könnt ihr einiges davon unter:

https://www.boycott-qatar.de/aufruf/

Buchtipp: „Niemandsland“

niemandsland„Niemandsland“ von Caroline Brothers beginnt sperrig. Der dreizehnjährige Aryan und sein achtjähriger Bruder Kabir versuchen gemeinsam mit anderen Flüchtlingen über den Evros nach Griechenland zu gelangen. Hinter ihnen liegt schon eine endlos lange Reise von Afghanistan über den Iran in die Türkei, allein auf sich gestellt, da die Eltern und ein älterer Bruder getötet wurden. Caroline Brothers, die sich als investigative Journalistin und anderem für die New York Times, viele Jahre mit Migration und Flüchtlingsströmen beschäftigt hat, schildert absolut realistisch und detailliert die Flucht zweier Kinder und was sie beschreibt, raubt einem den Atem. Alle Informationen und Bilder, die ich in den letzten Jahren zum Thema Flüchtlinge gesammelt habe, setzen sich wie ein Puzzle zusammen und finden sich auf grausame und menschenunwürdige Weise bestätigt. Ausbeutung und Versklavung auf Obstplantagen, Treffpunkte von Landsmännern in Stadtparks, Lager aus Pappkartons im Winter, durchlaufene Schuhe, die Skrupellosigkeit von Schleppern, Mißhandlung und Polizeigewalt. Und mittendrin zwei Kinder, die sich gegenseitig Kraft geben und am Leben halten und diesen Wahnsinn zusammen durchmachen. Aryan, der nach besten Kräften versucht, für sich und den kleinen Bruder die richtigen Entscheidungen zu treffen und Kabir, der mit seinem unbedarften, fröhlichen Wesen Herzen öffnet. In dessen Gesicht die Männer auf der Flucht ihre Kinder oder Brüder wiederfinden, die sie zurücklassen mussten. Die Geschichte vom „Niemandsland“ ruft ein fast schmerzendes Bewusstsein für das Unrecht hervor, das Menschen auf der Flucht widerfährt, dass sich nicht mehr so einfach wegschalten lässt. Es sind eben nicht mehr nur „die Flüchtlinge“, es sind jetzt Aryan, Kabir, Hamid, Jonah oder Khaled, die diese unerträglichen Zustände aushalten müssen. Eigentlich hatte ich das Buch als Jugendbuch gekauft, wir haben es dann aber zusammen gelesen und das war auch gut so. Caroline Brothers hat eine Geschichte aus vielen Fluchtgeschichten unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aufgezeichnet. Wer sie liest, wird nicht mehr mit Parolen gegen Flüchtlinge hetzen können, sondern ihnen mit Verständnis begegnen. „Niemandsland“ ist auch ein Buch für Erwachsene gegen die Gleichgültigkeit auf dieser Welt.

„Niemandsland“ von Caroline Brothers

Bloomsbury Verlag  ISBN 978-3-8270-1057-5