2022, die letzte – Demut

Die vergangenen Wochen waren eisig kalt und wir haben versucht, so wenig wie möglich zu heizen. Die Fenster beschlugen von innen und das Wasser sammelte sich, man kann im Altbau sicher sein, dass der Schimmel nicht lange auf sich warten lässt. Der Ofen im Wohnzimmer sorgte dafür, dass zumindest die Wäsche trocknete. Eine Lösung für den Klimaschutz ist das allerdings nicht, wenn Abertausende jetzt ihre Holzöfen als Heizalternative nutzen. Wir können uns das Leben zusätzlich mit Decken, Funktionsjacken und dicken Wollsocken angenehmer machen, wir können uns Tee kochen und eine Wärmflasche auf die Füße legen. Wir können sogar einfach die Heizung höher drehen, noch haben wir einen finanziellen Spielraum, die Kosten zu tragen. Und dann denke ich an all diejenigen, die diese Möglichkeiten nicht haben, die lange an der Heizung drehen können, sie aber keine Wärme abstrahlen wird, weil alle Leitungen zerbombt sind. Die auch keinen Tee kochen können, um die Hände zu wärmen, weil es keinen Strom gibt. Ich denke an die Menschen ohne Dach über dem Kopf, die jedes Jahr wieder gegen die eisige Kälte kämpfen müssen. Und an diejenigen, die finanziell schon am Limit waren, bevor die enorme Teuerung begonnen hat und nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Da empfinde ich eine tiefe Demut, wie privilegiert ich bin.

Überhaupt war das Jahr zwar bewegt – in der Familie gab es eine OP, die gut verlaufen ist, eine OP, die dann doch nicht stattfand, einige Schulfahrten und Auslandsaufenthalte– aber im Großen und Ganzen ein ruhiger Fluss. Die größte Herausforderung für uns Eltern war es, bei der extrem in Verzug geratenen Anfertigung der W-Seminararbeit des älteren Kindes nicht vollkommen durchzudrehen. Aber wir vier erfreuen uns bester Gesundheit. Dieses Glück haben leider nicht alle Familien. Bei manchen sind gerade die jugendlichen Kinder nicht schadlos durch die Pandemie gekommen und müssen sich jetzt in Kliniken wieder mühsam zurück ins Leben kämpfen. Die Wartezeiten für psychologische Hilfe sind meist viel zu lang und was innerhalb relativ kurzer Zeit entstanden ist, bleibt oft ein Teil des jungen Lebens. Bei einer Familie aus dem Bekanntenkreis, hat eines der Kinder den Kampf gegen den Krebs verloren hat und musste viel zu früh gehen. In einer anderen war es die Mutter, die ihre beiden Kinder viel zu früh verlassen musste, auch hier nach einem langen, grausamen Kampf gegen den Krebs. An sie denke ich besonders viel, denn nichts ist mehr, wie zuvor und dieses Weihnachtsfest ein besonders herausforderndes. Da sein für die anderen Familienmitglieder, versuchen, es irgendwie, schön zu machen und dennoch auch der Trauer und dem Verlust seinen Platz geben.

Dieses Gefühl bleibt bei mir am Ende dieses Jahres. Ich bin dankbar, dass wir gesund sind und als Familie zusammen sein können, dass wir hier nicht in einem Kriegsgebiet und in permanenter Angst leben müssen, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist und wir nicht um unser Leben fürchten müssen, wenn wir auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, dass wir ein Dach über dem Kopf haben und gut für uns sorgen können. Mit diesen Gedanken verabschiede ich mich von Euch mit den besten Wünschen aus diesem Jahr. Ich wünsche allen, die bedürftig sind und Hilfe benötigen, dass sie diese auch finden. Dass ihr euch nicht für eure Situation schämt, sondern euch anvertrauen könnt. Ein offenes Wort ist meist auch ein Türöffner.

Wenn ihr die Menschen in der Ukraine unterstützen möchtet, findet ihr auf der Homepage der Stadt Nürnberg Informationen. Charkiw ist eine unserer Partnerstädte und es gibt sehr gute und intensive Verbindungen.

https://www.nuernberg.de/internet/international/partnerschaftsverein.html

Eure Ella

Buchtipp: Der weiße Tiger

 

Der weiße Tiger_Aravind Adiga

Ich war noch nie in Indien. Noch nicht einmal irgendwo anders in Asien. Und doch habe ich so manches verstanden, als ich den Debütroman „Der weisse Tiger“ von Aravind Adiga gelesen habe. So manches Verhalten nämlich, über das deutsche Geschäftsleute immer wieder ihren Unmut äußern. Weil das Leben in Indien eben völlig anders zu funktionieren scheint, als das unsrige. Weil es kaum möglich ist, dem „Hühnerkäfig“ aus Kasten- und Familienzugehörigkeit, Herr- und Dienerschaft, wie ihn Protagonist Balram Halwai nennt,  zu entkommen. Es sei denn, man ist so gewieft wie er und spielt das Spiel aus Lüge, Erpressung und Korruption mit und geht dabei, wenn nötig, sogar über Leichen. So stellt er sich auch zu Beginn des Romans als Diener, Philosoph, Unternehmer und Mörder vor.

In sieben Nächten beschreibt Balram dem chinesischen Ministerpräsidenten seinen Aufstieg vom Sohn eines Rikschafahrers in dem kleinen Dorf Laxmangarh zum Unternehmer in der aufstrebenden Großstadt Bangalore. Obwohl Balram als klügstem Jungen des Dorfes ein Stipendium in Aussicht gestellt wird, muss er die Schule nach kurzer Zeit beenden, um für seine Familie  den Kredit für die Hochzeit einer Cousine mit seiner Arbeitskraft zurückzahlen zu können. Es gelingt ihm, nach seinem Dienst in einem Teehaus eine Anstellung als Fahrer zu ergattern, die ihn schließlich nach Delhi bringt, wo sich die Handlung zuspitzt. Aravind Adiga, der für seinen Roman 2008 den Booker-Prize bekam, beschreibt das Leben in Indien in all seiner Grausamkeit leichtfüßig, frech und manchmal zynisch. Er beschönigt nichts und erzählt von der anderen Seite der aufstrebenden Wirtschaftsnation, von den Zurückgebliebenen, von denen, deren Leben rein gar nichts wert ist, deren Tod man mit ein paar Scheinen wieder gut macht. Wenn überhaupt. Man kann es Balram Halwai am Ende der Geschichte kaum übel nehmen, dass er zum Mörder geworden ist in diesem System aus Fressen oder Gefressen werden. Mir hat diese rasante Geschichte mal wieder vor Augen geführt, wie wertvoll die Demokratie ist, in der wir leben, wo Reiche und Arme zumindest die gleichen Rechte haben, wenn auch nicht immer die gleichen Chancen. Und für wie selbstverständlich wir das nehmen.

Wegschauer

Ehrlich gesagt, finde ich es wirklich beschämend, wie feige wir Deutsche uns gerade in der Flüchtlingspolitik verhalten. Angela Merkel hat dem Druck der Bevölkerung und aus den eigenen Reihen nachgegeben und das Problem sozusagen outgesourct. Mit fragwürdigen Mitteln und Partnern. Und wir machen mit. Wir schauen weg, was uns ja jetzt weit besser gelingt, wo sich das akute Elend der Flüchtlinge mehr als 1000 Kilometer entfernt abspielt. Eine bequeme Sicherheitszone für die Bewahrung unseres Wohlstandes. Und wir alle wissen, dass dort Unrecht geschieht. Ich bin jedes Mal froh, wenn zumindest die Nachrichten noch von solchem berichten und Journalisten und Hilfsorganisationen nicht wegsehen. Ich habe ebenso wenige Patentrezepte für den Umgang mit den Flüchtlingsströmen wie die meisten Politiker, aber ich denke, dass ein ganz grundsätzliches Umdenken stattfinden muss. Wenn wir weiterhin nicht bereit sein werden, den Kuchen des Wohlstands gerechter aufzuteilen, werden wir zwangsläufig in die Situation kommen, Unrecht zu tun und Gewalt auszuüben und all unsere Werte zu verraten. In einer Welt, die Informationen überall zugänglich macht, wird sich niemand mehr damit zufrieden geben, in Armut zu leben, während er den anderen beim Schlemmen im totalen Überfluss zusehen soll. Die Politik müsste anfangen, benachteiligte Länder Ernst zu nehmen, anstatt sie mit halbherzigen Hilfsprogrammen abzuspeisen. Es wäre an der Zeit, faire Handelsabkommen abzuschließen und heimischen Märkten nicht das Geschäft durch Billigimporte zu zerstören. Die Politik dürfte nicht mehr aus wirtschaftlichen Interessen entscheiden, in welchen Ländern sie interveniert oder eben auch nicht und Lasten müssten gerecht auf die Länder verteilt werden. Aber solange unsere Wirtschaftssysteme auf Wachstum basieren und sich jeder und jedes Land selbst am nächsten ist, wird all das nicht passieren. Statt etwas an den Verhältnissen zu verändern, wird man weiterhin versuchen, sich Probleme bestmöglich vom Leib zu halten. Und das zu einem hohen Preis – dem der Menschlichkeit.